„Gleiche Chancen für alle“
Elisabeth Ewen, Vorständin für Personal, Unternehmenskultur und Recht der Fraunhofer Gesellschaft, über Gender Equality in der Wissenschaft und das Personalmanagement einer der größten Forschungsorganisationen der Welt
Wissenschaftler sind im öffentlichen Diskurs gefragt wie nie zuvor – siehe Coronapandemie und Klimakatastrophe. Dabei hat die Zukunft große Nachwuchssorgen, vor allem in den Natur- und Ingenieurwissenschaften. Unter diesen Vorzeichen leitet Elisabeth Ewen das Personalmanagement der Fraunhofer-Gesellschaft.
Elisabeth Ewen, 58, ist seit August 2022 Vorständin für Personal, Unternehmenskultur und Recht der Fraunhofer-Gesellschaft, München. Die Juristin war dort zuvor Direktorin Personal. Ewen begann ihre Karriere 1994 in der Personalabteilung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Ein Jahr später wechselte sie zum GMD Forschungszentrum Informationstechnik, wo sie die Abteilung Personalbetreuung leitete. Seit 2001 ist sie bei Fraunhofer unter Vertrag.
Frau Ewen, Sie machen sich für mehr Frauen in Führungspositionen der Forschung stark. Haben wir da Nachholbedarf in Deutschland? Und wo steht Ihre eigene Organisation?
Ewen Absolut. Das ist allerdings nicht nur ein Problem in der Forschung. Mehr Frauen auf allen Karrierestufen muss auch gesamtgesellschaftlich gesehen das Ziel sein. Fraunhofer engagiert sich seit vielen Jahren dafür, den Anteil von Wissenschaftlerinnen auf allen Karrierestufen zu erhöhen. Der Fraunhofer-Vorstand hat dazu eine Reihe von Maßnahmen beschlossen. Bei den Institutsleitungen und wissenschaftlichen Direktorinnen und Direktoren der Fraunhofer-Gesellschaft haben wir derzeit etwas mehr als 13 Prozent mit Frauen besetzt. Zum Vergleich: 2020 waren es noch 7 Prozent. Auf der Ebene der Führungskräfte mit disziplinarischer Befugnis haben wir einen Frauenanteil von knapp 18 Prozent. Bei den Neueinstellungen liegen wir bei einem Frauenanteil von 28,6 Prozent, 2020 waren es 27 Prozent. Der Frauenanteil steigt kontinuierlich, aber wir sind natürlich noch lange nicht da, wo wir sein wollen.
Was tun Sie konkret, um Gender Equality bei Fraunhofer durchzusetzen?
Ewen Die Erhöhung des Frauenanteils lässt sich nicht schnell erzwingen. Man darf auch nicht immer nur auf die Quoten schauen. Eine Institutsleiterin macht noch keine genderneutrale Arbeitskultur, ein gendersensibles Formular für das Personalgespräch noch keine faire Personalpolitik. Die Strategie muss sein, die Kultur der Zusammenarbeit auf allen Ebenen und im Alltag fair für alle zu gestalten. So kann sich jede Person entsprechend ihrer eigenen Qualifikationen weiterentwickeln und neue Aufgaben oder Führungspositionen übernehmen – unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Identität.
Wie unterstützt die Zentrale in München diese Strategie?
Ewen Fraunhofer hat sich die Chancengleichheit von Frauen und Männern als unternehmerisches Ziel gesetzt und verfolgt dieses seit 2013 mit einem nachhaltigen Gesamtkonzept, das aus systematisch miteinander abgestimmten Bausteinen besteht. Im Rahmen dieses Konzepts wurden Maßnahmen und Programme in den sechs Bereichen Rekrutierung, Karriereförderung, Kommunikation, Kulturentwicklung, Monitoring und Rahmenbedingungen aufgesetzt und etabliert. So wurden beispielsweise für den Zeitraum 2021 bis 2025 neben dem Fraunhofer-weiten Ziel einer durchschnittlichen jährlichen Einstellungsquote von Wissenschaftlerinnen von mindestens 32 Prozent erstmals auch institutsindividuelle Einstellungsquoten für Wissenschaftlerinnen festgelegt.
Wir haben zentralseitig ein Begleitprogramm Chancengleichheit mit verschiedenen Modulen. Es soll die Fraunhofer-Institute dabei unterstützen, eine Strategie für mehr Chancengleichheit vor Ort zu entwickeln und ihre Prozesse und Strukturen chancengerechter zu gestalten. Dies zielt auch auf die Neueinstellung und Karriereentwicklung von Wissenschaftlerinnen ab. Wir unterstützen die Verantwortlichen an den Instituten von der Zentrale aus mit Themenworkshops, Peer-Austausch und Best-Practice-Workshops. Wir arbeiten intensiv daran, unser Gesamtkonzept in allen Aspekten auf diese Ziele auszurichten. Wir setzen Zielvorgaben, passen unser Recruiting an, wenn sich etwas nicht bewährt, entwickeln die Personalgespräche weiter und setzen Schulungen für die Mitarbeitenden und das Führungspersonal auf.
Vorurteilen vorbeugen
Wichtig ist: Wir dürfen nicht stehen bleiben, sondern müssen uns immer wieder hinterfragen und auf der Basis neuer Erkenntnisse weiterentwickeln. So beschäftigen wir uns seit einigen Jahren intensiv mit dem immer noch häufig unterschätzte Thema Gender Bias oder Unconscious Bias. So haben wir zum Beispiel ein E-Learning zum bewussteren Umgang damit eingeführt, das alle Institute nutzen können. Das Besondere daran ist, dass sich alle Mitarbeitenden in dem digitalen Training auf den Weg in der Rolle einer Institutsleitung, Projektleitung oder studentischen Hilfskraft auf den Weg machen, die neue Fraunhofer-Innovation zu entwickeln. Auf diesem Weg müssen sie Entscheidungen treffen, bei denen sie auf Unconscious Bias stoßen.
Gibt es Leuchtturmprojekte?
Ewen Ja, aber der Begriff Leuchtturm gefällt mir hier nicht besonders. Es geht ja nicht darum, leuchtende Signale zu senden. Es geht in erster Linie darum, ein faires Miteinander und Chancengleichheit für alle Mitarbeitenden zu schaffen. Entscheidend ist, dass dies für die Mitarbeitenden jeden Tag real erlebbar ist. Wir haben eine Reihe von Programmen und Aktivitäten ins Leben gerufen. Ein Beispiel ist das Karriereprogramm TALENTA, das wir 2013 eingeführt haben. Seitdem wurden mehr als 650 Wissenschaftlerinnen und weibliche Führungskräfte aus den MINT-Fächern in ihrer Karriereentwicklung gefördert. Sie konnten Karriere- und Forschungszeit sowie Qualifizierungs- und Vernetzungsformate nutzen, um ihre Karriereziele zu erreichen, zum Beispiel ihre Promotion abzuschließen, ihre Führungskompetenz weiterzuentwickeln oder ihre wissenschaftlichen Sichtbarkeit zu erhöhen. Außerdem haben wir das Fraunhofer-Familien-Logo eingeführt, mit dem wir Fraunhofer-Institute für exzellente Vereinbarkeit von Familie und Beruf auszeichnen. Mittlerweile konnten wir 19 Fraunhofer-Institute mit diesem Logo auszeichnen.
Wie kommt das bei den Beschäftigten an?
Ewen Umfragen der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen zeigen uns, dass die Zufriedenheit in diesem Punkt steigt. Waren 2018 noch 55 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen mit diesem Aspekt zufrieden, sind es 2020 schon 62 Prozent. Das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird übrigens auch von den männlichen Kollegen sehr ernst genommen. Das ist ein gutes Zeichen. Wir stecken viel Energie, Zeit und Ressourcen in diese Programme. Wenn Sie grundlegend etwas verbessern wollen, brauchen Sie einen langen Atem, Durchhaltevermögen und immer wieder gute Ideen.
Welche Karrierestrategie würden Sie einer jungen Wissenschaftlerin empfehlen?
Ewen Suchen Sie das Gespräch mit der Führungskraft und thematisieren Sie mögliche Karrierepfade. Nutzen Sie die Qualifizierungszeit bei Fraunhofer und die zahlreichen Weiterbildungsmöglichkeiten. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Arbeit. Haben Sie den Mut, Ihre Ideen und Ihre Talente einzubringen. Durch die Übernahme von Verantwortung schaffen Sie Sichtbarkeit. Haben Sie Spaß und Freude daran, Verantwortung zu übernehmen – gleichgültig ob dies Fachthemen, Projektleitungen oder Führungspositionen betrifft.
Umfragen zeigen, dass es damit noch hapert in Deutschland. Wie kann man einen besseren Umgang mit Fehlern finden?
Ewen Auch hier stehen wir erst am Anfang. Die oberen Führungskräfte müssen zwingend Vorbilder sein. Mein Eindruck ist, dass es bisher nicht üblich war, dass Vorstände sagen: „Hey, da habe ich danebengelegen. Das würde ich heute anders machen.“ Das ist nicht selbstverständlich, weil man das Gefühl hat, ein Vorstand muss immer richtige Entscheidungen treffen. Wenn man aber zeigt, dass dem nicht so ist, fühlen sich auch mittlere Managementebenen und darunter ermutigt, Fehler zuzugeben.
In vielen MINT-Studiengängen steigt der Frauenanteil seit Jahren, in Vorlesungen der Lebensmittelchemie, Pharmazie oder Biologie sitzen inzwischen mehr Frauen als Männer. Dagegen sind Studiengänge ingenieurwissenschaftliche Studiengänge wie Fahrzeugtechnik, Maschinenbau oder Versorgungstechnik nach wie vor Männerdomänen. Woran liegt das?
Ewen Die Ingenieurwissenschaften und insbesondere die von Ihnen genannten Berufe scheinen bei Frauen noch nicht besonders beliebt zu sein. Der Frauenanteil in allen MINT-Fächern ist seit 1991 nur um zehn Prozent gestiegen. Die Studienwahl basiert häufig noch auf unbewussten Geschlechterrollenbildern. Eine Rolle spielt dabei die Selbstwahrnehmung junger Frauen in Bezug auf berufsrelevante Interessen und Kompetenzen spielt hier mit rein. Diese ist nach wie vor häufig von klischeehaften, klassischen Geschlechterstereotypen gekennzeichnet. Solche Vorurteile halten sich hartnäckig und sind, da sie unbewusst sind, nur schwer zu ändern. Die Folge: Junge Frauen sind weniger motiviert, sich in Arbeitswelten zu begeben, in denen die Männer unter sich sind. Es gibt daher viel zu tun.
Was schlagen Sie vor?
Ewen Wir brauchen eine andere Ansprache und neue Konzeptejung, um junge Menschen, um sie für ein MINT-Studium zu begeistern. Bisherige Curricula müssen innovativer und digitaler werden. Die Berufsvorbereitung sollte noch enger mit den Schulen gekoppelt werden. Wir benötigen gezielte Maßnahmen in diesen Fächern und Maßnahmen zur Nachwuchsförderung für MINT-Fächer im Allgemeinen.
Wie sieht die Situation in den MINT-Ausbildungsberufen aus?
Ewen In diesem Zusammenhang ist eine aktuelle Umfrage der Universität Erfurt unter Schülerinnen bemerkenswert: Über 70 Prozent der befragten jungen Frauen interessieren sich für MINT-Themen. Doch bei der Frage nach einem Studium oder einer Ausbildung haben viele der Schülerinnen plötzlich Bedenken. Jeweils mehr als 40 Prozent der befragten Frauen geben an, dass sie sich von MINT-Themen überfordert fühlen oder dass ihnen dieser Bereich zu schwierig ist. Dies gilt es zu ändern, indem zum Beispiel Gender- und Diversity-Kompetenz bereits in der Lehramtsausbildung stärker thematisiert werden. Es wäre schön, wenn das Bild der MINT-Berufe auch in den Medien, etwa in TV-Serien oder Filmen, attraktiver und spannender dargestellt würde. Mädchen und Jungen sollten bereits im Kindergarten und in der Schule eine gendersensible und weniger auf gesellschaftlichen Rollen aufgebaute Berufs- und Studienorientierung kennenlernen.
Fehlen Vorbilder?
Ewen Auf jeden Fall braucht es mehr Austausch mit Role Models, Möglichkeiten zur Selbsterfahrung durch Technik-Camps, Empowerment und das Wissen über berufliche Optionen. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hängt davon ab, dass an Schulen, Hochschulen und in der Ausbildung Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften einen hohen Stellenwert haben. Hier sollten wir mehr tun.
Die Fraunhofer-Gesellschaft mit ihren 76 Instituten und Forschungseinrichtungen beschäftigt rund 30.000 Menschen, darunter sehr viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Wie homogen ist das Personalmanagement in diesem Verbund?
Ewen Die Steuerung der Fraunhofer-Gesellschaft und ihrer rechtlich nicht selbstständigen Institute ist von dem Gedanken geprägt: so dezentral wie möglich, so zentral wie nötig. Das spiegelt sich auch in unserem Personalmanagement wider. Wichtig ist, dass die Strategien der Fraunhofer-Gesellschaft und ihrer Institute aufeinander aufbauen und sich ergänzen, wir unsere gegenseitigen Bedarfe verstehen und wertschätzen. Hierfür ist der enge Austausch aller Beteiligten erforderlich. Bei 76 Instituten in allen Bundesländern und Regionen ist das keine leichte Aufgabe. Kein Institut der Fraunhofer-Gesellschaft gleicht einem anderen, denn die jeweiligen wissenschaftlichen Fachrichtungen sind sehr prägend. Trotzdem gibt es eine einheitliche Dachstrategie. Daraus haben wir ein Fraunhofer-weites Personalmanagement und eine übergreifende Unternehmenskultur entwickelt. Darauf aufbauend haben wir den Vorstandsbereich Personal reorganisiert und die Personalprozesse in die Managementprozesse integriert.
Personalarbeit hat viele Träger
Das bedeutet: Wir können fortlaufend überprüfen, welche Bedürfnisse strategische Initiativen in puncto Personalmanagement wecken. Welche Themen stehen für die Mitarbeitenden und für Fraunhofer im Fokus? Diese Frage leitet sowohl die strategische wie als auch die operative Personalarbeit. Personalarbeit wird also somit nicht ausschließlich durch die „Abteilung Personal“ in der Zentrale oder am Institut, sondern hat viele Träger in der Gesamtorganisation.
In der Bezeichnung Ihres Vorstandsressorts taucht der Begriff „Unternehmenskultur“ auf. Welche Rolle spielen kulturelle Fragen in der täglichen Forschungsarbeit?
Ewen Kultur ist etwas Lebendiges, es kommen ständig neue Impulse von innen und von außen. Zum Beispiel eine Pandemie mit ihren massiven Folgen für alle gesellschaftlichen Bereiche. Unsere Kultur bestimmt unsere Attraktivität für Bewerbende, Kunden und Partner*innen mit und ist daher ein entscheidender Wettbewerbsfaktor. Auch interne Systeme und Prozesse sowie strategische Initiativen entfalten nur dann ihre Wirkung, wenn sie von den Mitarbeitenden im Alltag konkret gelebt werden können. Wir werden daher das Zukunftsbild unserer Arbeitskultur in einem breiten partizipativen Prozess weiterentwickeln. Auf allen Ebenen sind es letztlich die Menschen, die den Erfolg ausmachen. Darum ist Erfolg heute mehr denn je Teamarbeit und basiert auf einer offenen, wertschätzenden und fairen Unternehmenskultur, die deutlich sichtbar ist und den Mitarbeitenden Orientierung, Stabilität und Motivation gibt. Das sind die Ressourcen und Qualitäten, auf die die Fraunhofer-Mitarbeitenden zurückgreifen müssen, wenn sie jeden Tag aufs Neue ihre Leistung erbringen.
Sehen Sie sich tatsächlich als „Unternehmen“?
Ewen Wir sind ein gemeinnütziger privatrechtlich organisierter Verein. Die Unterschiede zu einem Wirtschaftsunternehmen sind im Arbeitsalltag der meisten Mitarbeitenden allerdings nicht immer spürbar. Die für Unternehmen typische Erfolgsorientierung gibt es bei uns genauso, denn wir müssen zwei Drittel unseres Betriebshaushalts auf Basis von Projekten mit Bund und Ländern sowie der Wirtschaft selbst erwirtschaften. Nachhaltiger Erfolg ist aber ohne eine Kultur des Miteinanders nicht möglich – weder in einem Verein oder noch in einem Unternehmen.
Die deutsche Forschungslandschaft wird von Organisationen geprägt, die die Namen berühmter Wissenschaftler tragen: Fraunhofer, Planck, Helmholtz, Leibniz. Inwieweit herrscht Konkurrenz untereinander?
Ewen Ich nehme keine Konkurrenz wahr. Das deutsche Wissenschaftssystem gehört im internationalen Vergleich weltweit in der Spitzengruppe. Fraunhofer steht dabei am sichtbarsten für die anwendungsorientierte Forschung und den Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in den Markt. Es ist wichtig, dass die missionsorientierten Unterschiede bestehen bleiben und wir uns gegenseitig ergänzen. So können wir Synergien entlang der Innovationskette heben und sowohl die Exzellenz in der Forschung als auch die Effektivität und Effizienz im Wissens- und Technologietransfer steigern. Ein leistungsfähiges Wissenschaftssystem bildet den Nährboden für Innovationen und stellt Handlungs- und Entscheidungswissen zur Bewältigung der großen gesellschaftlichen Herausforderungen bereit. Dies kann nur gemeinsam gelingen.
In unserer Wissensgesellschaft geraten Experten und Expertinnen zunehmend in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit. Das haben wir zuletzt in der Coronapandemie erlebt, weitere Beispiele sind die Themen Klimawandel und Energiewende. Ins „stille Kämmerlein“ können sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kaum noch zurückziehen. Ist das gut für die berufliche Reputation – oder leidet darunter das konzentrierte Arbeiten?
Ewen Die Kommunikation über die eigene Forschung und die gewonnenen Erkenntnisse muss Teil der Arbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sein. Forschende können am besten erklären, wie Wissenschaft funktioniert, warum Wissenschaftsfreiheit wichtig für unsere Demokratie ist und was Wissenschaft von Meinung unterscheidet. Das Ansehen der Forscherinnen und Forscher ist in letzter Zeit gestiegen. Gerade im Kontext der Coronapandemie, der Klimakrise oder bei Fragen der Energieversorgung wenden die Menschen sich an die Wissenschaft. Sie wissen, was die Forschung leistet, und sie vertrauen ihr. Das zeigt das von uns mitfinanzierte Wissenschaftsbarometer, das seit 2014 regelmäßig in bevölkerungsrepräsentativen Umfragen die Einstellungen der Bevölkerung zu Wissenschaft und Forschung ermittelt.
Als öffentlich geförderte Forschungsorganisation können Sie hochqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht die gleichen Gehälter zahlen wie Unternehmen. Wie schaffen Sie es dennoch, Talente zu gewinnen?
Ewen Hohe Gehälter sind nicht alles, das sehen auch immer mehr junge Menschen so. Eine sinnstiftende Arbeit, die der Gesellschaft nützt, die Beteiligung an spannenden zukunftsweisenden Projekten und nicht zuletzt ein förderndes, wertschätzendes Arbeitsklima sind heute Schlüsselfaktoren im Entscheidungsprozess junger Talente. Es ist eine schöne Bestätigung für uns, dass wir in Arbeitgeberrankings regelmäßig Topplatzierungen belegen.
Fraunhofer als Karrieresprungbrett
Für viele ist Fraunhofer auch ein Karrieresprungbrett, denn in vielen Fällen ist die Beschäftigung bei Fraunhofer eine Qualifizierungsphase für den weiteren Karriereweg. Das ist übrigens kein Zufall, sondern Teil der Fraunhofer-Mission. Rund 55 Prozent unserer Beschäftigten sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Umsetzung des in unserer Mission verankerten „Transfers durch Köpfe“ findet sich im Personalmanagementansatz „Karriere mit Fraunhofer“ wieder. Das heißt, dass unsere Mitarbeitenden in der Zeit der Tätigkeit bei Fraunhofer bestmöglich ausgebildet werden, damit sie ihren beruflichen Weg in der Wirtschaft, eine Tätigkeit im akademischen Umfeld oder eine Ausgründung weiterverfolgen können. Die Ausgestaltung dieses missionsorientierten Ansatzes erfolgt an unseren Instituten unter Beachtung der jeweiligen Fachspezifika und der regionalen Besonderheiten.
Sie rechnen also damit, dass Talente abgeworben werden?
Ewen Nicht selten passiert es, dass sich Forschende durch erfolgreiche Projekte einen Ruf als Koryphäe in der jeweiligen Branche erarbeiten. Dann kommt schnell der Lockruf aus der Wirtschaft. Solche Karrieren beweisen, dass der Wissenstransfer von der Forschung in die Industrie gelingt. Die Umsetzung dieser Zielsetzung zeigt sich unter anderem in der durchschnittlichen Fluktuationsquote von zehn Prozent im wissenschaftlichen Bereich.
Eine Frage, die viele unserer Leser im Personalmanagement umtreibt: Wie schätzen Sie den Stand der Forschung zu HR-Themen ein? Passiert hier genug, und wie kann man beide Felder enger verknüpfen?
Ewen In der Forschung passiert sehr viel zu HR-Themen. Mein Eindruck ist aber, dass die Ergebnisse in manchen Unternehmen noch links liegen gelassen werden. Man reagiert erst, wenn man muss. Dann ist es aber zu spät. Ein Beispiel ist das Thema Diversity. In der Forschung zur interkulturellen Kommunikation ist es schon seit den 1990er-Jahren Konsens, dass vielfältige Teams in großen Unternehmen bessere Leistung bringen als Teams, in denen alle Mitglieder aus der gleichen Kultur oder dem gleichen Milieu stammen. Doch gerade in mittleren und kleineren Unternehmen werden solche Erkenntnisse oft erst Jahre später umgesetzt.
Gibt es ein für Sie persönlich besonders wichtiges Thema, das Sie voranbringen wollen?
Ewen Es gibt einige Themen, die mir besonders am Herzen liegen. Zum Beispiel die Veränderungen der Arbeitswelt. Dazu haben wir unser Projekt „New Work@Fraunhofer“ ausgerollt, um die Leistungsfähigkeit und Innovationskraft der Fraunhofer-Institute zu sichern und zu steigern. New Work bildet einen wesentlichen Faktor für die Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Rahmenbedingungen und unterstützt die Innovationsfähigkeit, Arbeitgeberattraktivität und Resilienz der Organisation. Wir müssen uns aber auch ganz anderen Herausforderungen stellen. Was ich intensivieren möchte, ist die Begleitung der Institutsleitungen bei ihren herausfordernden Managementaufgaben, zum Beispiel in Change-Prozessen oder in anderen schwierigen Phasen. Außerdem möchte ich unseren Kulturentwicklungsprozess vorantreiben. Wir werden analysieren, wo wir uns weiterentwickeln müssen und welche unserer Werte stabil sind. Wenn wir darüber Klarheit haben, können wir unsere Unternehmenskultur noch stärker erlebbar machen.
Sie sind seit einem knappen Jahr Vorstandsmitglied. Welche „Learnings“ ziehen Sie aus dieser neuen Aufgabe? Und welche „dicken Bretter“ müssen Sie noch bohren?
Ewen Das Arbeiten an den vorhin erwähnten unbewussten Denkmustern, Vorurteilen und Biases ist nicht immer ganz leicht. Aber dicke Bretter bohren gehört sowohl in der Forschung als auch im Personalmanagement zur Jobbeschreibung.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führten Ralf Steuer und Christoph Stehr.
Das Interview erschien zuerst in unserem Fachmagazin PERSONALFÜHRUNG 05/2023.
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