„Wir brauchen jährlich 2000 Menschen in Uniform mehr“
Generalmajor Robert Sieger, Präsident des Bundesamts für das Personalmanagement der Bundeswehr, über direkte Kommunikation statt Kasernenton und die Zukunft der Wehrpflicht
Das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr mit Sitz in Köln ist quasi die zentrale Personalabteilung der deutschen Streitkräfte. Die obere Bundesbehörde erfüllt seit 2013 die Aufgaben mehrerer Vorläuferorganisationen der Wehrverwaltung. An über 20 Standorten, darunter die 16 Karrierecenter der Bundeswehr, beschäftigt das Bundesamt 6800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Die im April 2024 begonnene Amtszeit von Präsident Generalmajor Robert Sieger steht im Zeichen der sogenannten Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz für die Außen- und Verteidigungspolitik ausgerufen hat. Sieger muss große Herausforderungen anpacken: Erhöhung der Personalstärke der Bundeswehr, Gestaltung einer neuen Wehrpflicht, Modernisierung der Führungskultur.
Generalmajor Robert Sieger, 60, trat im ABC-Abwehrbataillon Bruchsal in die Bundeswehr ein. Nach der Offiziersausbildung in Sonthofen und dem Studium der Wirtschafts- und Organisationswissenschaften an der heutigen Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg startete Sieger seine Karriere als Zugführer und schritt kontinuierlich die Stufen aufwärts – darunter Kompaniechef, Stabschef, Kommandeur Zentrum Innere Führung, Leiter Task Force Personal und nun als Generalmajor Präsident des Bundesamts für das Personalmanagement der Bundeswehr. Damit gingen viele Ortswechsel einher: von Emden über Veitshöchheim und Koblenz nach Kansas / USA und Köln. Seine Familie schreckte dieses umzugsreiche Soldatenleben offensichtlich nicht: Sein Sohn und seine Tochter dienen heute bei der Bundeswehr.
Herr Generalmajor Sieger, Ihr Ziel bis 2030 ist ausgesprochen ambitioniert: Von 181 000 auf 203 000 Soldatinnen und Soldaten soll die Bundeswehr wachsen.
Generalmajor Robert Sieger Unsere sicherheitspolitischen Analysen nennen sogar 2029 als markantes Datum. Nachrichtendienste, aber auch unsere eigenen Analysen zeigen, dass Putin 2029 die Verluste, die er derzeit im Krieg gegen die Ukraine erleidet, mit seiner Kriegswirtschaft ausgeglichen haben wird. Damit wird die Bedrohungs- und Risikolage, nicht die Kriegswahrscheinlichkeit, sehr viel stärker als heute. Die Dynamik der Veränderung ist uns aufgezwungen worden durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Aber ich erlebe mit Minister Boris Pistorius jemanden, der sagt, dass wir jetzt nach vorne gehen und es keine Rolle spiele, ob wir das zu hundert Prozent hinkriegen. Die Veränderungen, die wir im Moment sehen in der Bundeswehr, mit Reorganisation, neuem Wehrdienst und der Brigade in Litauen, also die Wiederherstellung der vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, sind von der Dimension her allenfalls mit den Gründungsjahren vergleichbar.
Sie suchen Wehrdienstleistende, Zeitsoldaten, Berufssoldaten und zivile Bundeswehrangehörige. Aber Sie wissen noch nicht, ob die Wehrpflicht, und, wenn ja, welches Modell der Wehrpflicht, kommt. Wie bereiten Sie sich personalpolitisch vor?
Sieger Entscheidend ist der schlussendliche gesetzliche Rahmen. Bis dahin gehen wir von Annahmen aus. Nach der gegenwärtigen Planung für das nächste Jahr sollen bis zu 5000 Wehrdienstleistende nach dem neuen Wehrdienstmodell zu uns kommen.
“Zum einen müssen wir unsere Anstrengungen in der Personalgewinnung und Personalbindung deutlich erhöhen. Zum anderen müssen wir uns auf eine starke Reserve konzentrieren.”
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Wehrdienstmodelle sind immer auf eine starke Reserve konzentriert und nicht auf das Schließen von Personallücken. Wir brauchen ein Wehrdienstmodell, das Grundfertigkeiten vermittelt. Diejenigen, die diese Grundfertigkeiten erlernt haben, werden in den Status eines Reservedienstleistenden überführt, können immer wieder trainieren und üben, um sich auf dem Stand zu halten. Aber natürlich werden wir auch Wehrdienstleistenden, die sagen, ich kann mir das auch hauptberuflich vorstellen, attraktive Angebote für einen Verbleib in den Streitkräften machen.
Sie sprechen über die Jungen.
Sieger Genau, wir reden über die, die im nächsten Jahr 18 Jahre alt werden. 5000 ist unser Ausgangswert. Dazu benötigen wir, so die Erfahrungswerte, Musterungskapazitäten in den Karrierecentern für 10 000 Menschen. Wir werden die Kapazitäten in den nächsten Jahren darüber hinaus stufenweise steigern, um auch steigende Zahlen von Wehrdienstleistenden aufnehmen zu können. Insgesamt aber gilt: Um das hinzubekommen, haben wir haben Bedarf an Infrastruktur, Ausstattung, Ausrüstung – und an Ausbildungspersonal.
Keine Wehrpflicht ohne neues Gesetz
Sie planen jetzt. Aber es kann Ihnen passieren, dass Sie wegen des fehlenden Wehrpflichtgesetzes erst 2026 starten können oder noch später.
Sieger Das Gesetzgebungsverfahren liegt in den unterschiedlichen Ministerien und im Parlament. Dort wird entschieden, ob, wie und wann die angestrebten Änderungen umgesetzt werden. Und klar ist auch: Ohne angepasste gesetzliche Grundlagen kann es den neuen Wehrdienst nicht geben. Aber wir müssen uns schon jetzt vorbereiten, um schnell in die Umsetzung gehen zu können. Die Karrierecenter kann ich in unterschiedlichen Zeitscheiben verstärken, auch mit medizinischem Fachpersonal. Eine ganz andere Frage ist es, wie wir die vielen Menschen ausbilden, die zusätzlich in die Bundeswehr hineinkommen. Aber das ist nicht allein meine Aufgabe.
Wie stark ist der Versuch, den Unterschied zwischen Soldaten und Soldatinnen mit der Zeitenwende zu verändern?
“Die Bundeswehr macht keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern. Ökonomisch und demografisch dürfen und können wir uns gar nicht leisten, auf die Hälfte eines Jahrgangs zu verzichten. Und ich will es auch gar nicht. ”
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Sieger: Gesetzlich ist es allerdings derzeit untersagt, Frauen mit einer Art Wehrdienst verpflichtend in die Bundeswehr zu bringen. Ob für diese erhebliche gesetzliche Änderung die politische Kraft über alle Parteien hinweg da ist, das vermag ich im Moment nicht zu sagen, weil diese Diskussion in der Tiefe noch nicht geführt ist.
Sie brauchen eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat.
Sieger Je höher Sie die gesetzlichen Hürden im Moment setzen, desto weniger schnell kann der neue Wehrdienst kommen. Also geht es jetzt darum, etwas zu machen, wo sich alle drauf verständigen können. Das mag für die Bundeswehr nicht das Optimum sein, aber es ist ein wichtiger Einstieg.
Sie wollen sich nicht verkämpfen an einer Stelle, die nur viel Zeit kostet, sondern lieber sofort loslegen?
Sieger Ja, anderes kann man evolutionär anpassen. Sicherheitspolitisch müssen wir schnell starten.
Aufgabenverteilung zwischen Berlin und Köln
Wie genau sieht bei diesem Start die Aufgabenverteilung zwischen Berlin und Köln aus, zwischen der Abteilungsleiterin Personal im Verteidigungsministerium, Oda Döring, und Ihnen, dem Chef des Bundesamts für Personalmanagement? Sie haben 2023 gemeinsam die Task Force Personal geleitet.
Sieger Das Ministerium ist verantwortlich für strategische Rahmenbedingungen und Steuerung, wir für das operative Doing. Zusammen führen wir die Arbeit fort, die wir als Leitung Task Force gemeinsam entwickelt haben. Wenn ich versuche, strategische Rahmenbedingungen zu setzen, würde ich über meine Grenze gehen. Und wenn unsere Abteilungsleiterin Personal versuchen würde, in das tiefe Doing des Bundesamts für Personalmanagement einzugreifen, also die Wie-Frage zu beantworten, dann würde sie ihren Fokus verlieren.
Sie haben in der Task Force aus über 200 Ideen über 60 Maßnahmen herausgefiltert. Was setzen Sie schon um?
Sieger Es gab 2016 die Trendwende Personal. Das hat Handbremsen gelöst bei der Personalgewinnung. Auf der anderen Seite hatten wir aber viele Maßnahmen, die letztendlich an der Umsetzung gescheitert sind – entweder war das Geld zu knapp oder die Priorität war eine andere.
Es gab Interessenkonflikte zwischen dem Bereich Personal und den Vorstellungen in den Streitkräften. Der Charme der Task Force Personal lag darin, innerhalb von netto vier Monaten mit sehr hohen Freiheitsgraden das voranzubringen, wo wir bereits 2024 Effekte produzieren können. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und Staatssekretär Nils Hilmer gaben uns die Gestaltungsfreiräume, Maßnahmen umzusetzen, ohne zu fragen. Mit dieser Sonderstellung haben wir 64 Maßnahmen ausgewählt und umgesetzt. Diese Maßnahmen greifen in unterschiedliche Handlungsfelder und unterschiedlich tief in die Organisation ein.
Bitte nennen Sie ein konkretes Beispiel.
Sieger Nehmen wir das Handlungsfeld „Interesse erhöhen“. In der Personalgewinnung wirkt regionalisierte Werbung messbar, unmittelbar und schnell.
Wiesel-Panzer im Einkaufszentrum
Die Bundeswehr als Pop‑up. In Solingen stand ein Wiesel-Panzer im Einkaufszentrum.
“Das ist sofort greifbar. Ich möchte Werbung zukünftig stärker regional zuschneiden. Man sieht sehr schnell, ob das Interesse zunimmt.”
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Sieger Etwa über qualifizierte Kontakte, wenn also Menschen ihre Adresse hinterlassen, damit wir ihnen etwas zuschicken. Oder wir messen die Zahl der Bewerbungen. In diesem Jahr haben wir schon jetzt eine 17 Prozent höhere Bewerbungsquote als 2023 – und 17 Prozent sind eine Menge Holz. Anders ist es, wenn Sie in den Maschinenraum der Bundeswehr eingreifen, etwa in die Truppenstrukturen. Wenn wir darüber nachdenken, ob unsere Anforderungen zu hoch sind oder zu spezifisch oder zu viele, müssen wir Konsens herstellen mit Heer, Luftwaffe, Marine. Dann müssen wir Anforderungen harmonisieren, in Teilen senken, in Teilen erhöhen, also verändern.
Anforderungen zu senken, das erzeugt sicher Diskussionen, vor allem bei älteren Offizieren.
Sieger Es hat leider immer einen Beigeschmack. Aber heute muss ich Fachkräfte viel stärker selbst entwickeln. Ich kann nicht mit Instrumenten von vor 20 Jahren arbeiten, die darauf ausgelegt waren, aus vielen wenige herauszufiltern, sondern ich muss aus den wenigen das meiste gewinnen. Das erfordert eine ganz andere Sichtweise auf die Anforderungen an die Bewerbenden.
Damit sind Sie gestartet, aber welche Maßnahmen dauern länger?
Sieger Unsere Zielformulierung für 2024 lautete: Wir müssen 2000 Menschen mehr gewinnen und binden als im vergangenen Jahr. Und wir dürfen 1000 weniger verlieren in den ersten sechs Monaten, als wir das derzeit jährlich tun. Die 2000 liegen im Spielfeld des Bundesamts für Personalmanagement. Wir werden das erreichen. Und damit werden wir zum ersten Mal nach zwei Jahren den Abwärtstrend brechen können. Jedes Jahr stellen wir 25 000 Soldaten und zivile Angehörige ein. Aber wir haben jedes Jahr 2000 Zeit- und Berufssoldaten verloren.
“Wir müssen 2000 Menschen mehr gewinnen und binden als im vergangenen Jahr (...) und wir werden das erreichen.”
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Eine immense Zahl vor dem Hintergrund des demografischen Wandels.
Sieger In der Zahl 25 000 stecken etwas mehr als 20 000 Soldatinnen und Soldaten. Um den Abwärtstrend zu brechen, brauchen wir 2000 Menschen in Uniform mehr, das sind dann über zehn Prozent mehr. Sorge macht mir aber unser Verlust in den ersten sechs Monaten – da machen wir nur ganz langsam Fortschritte.
Kommiss war einmal
Liegt es daran, dass es in den Kasernen immer noch altmodisch zugeht?
Sieger Das Vorurteil, dass die Bundeswehr immer noch der Kommiss von damals ist, das kennen wir. Wir müssen uns um diese Kulturfrage kümmern. Hinzu kommt aber das Bedürfnis der jungen Generation, zunächst einmal etwas ausprobieren zu wollen – und sich manchmal mehr als einmal neu zu entscheiden. Der Unterschied zwischen der Zivilgesellschaft und der militärischen Gemeinschaft ist groß. Wir in Uniform sind halt schon ein bisschen anders als Mitarbeiter in der Bäckerei oder in der IT-Firma. Viele sprechen von einem Kulturschock.
Die Abbruchquote trifft auch andere, etwa Fachhochschulen. Spielt bei Ihnen tatsächlich die Gemeinschaft eine Rolle?
Sieger Der Übergang von der Zivilgesellschaft in die militärische Gemeinschaft, das ist ein größerer Schritt als der Einstieg in alle zivilen Berufsfelder. Wir fragen uns, wie wir die richtigen Mechanismen finden, um der Generation Z diesen Übergang zu erleichtern. Junge Menschen haben ein hohes Bedürfnis, begleitet zu werden. Immer und überall finden Sie das vielleicht nicht, aber wir gestalten das Onboarding besser, als man es uns zutraut.
“Wir fragen uns, wie wir die richtigen Mechanismen finden, um der Generation Z diesen Übergang zu erleichtern. Untersuchungen wie etwa die Gallup-Studie belegen, wie wichtig Bindungsarbeit ist.”
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Nennen Soldaten, die im ersten halben Jahr kündigen, Gründe?
Sieger Oft sind es Impulskündigungen nach dem Motto: „Der Tag war heute nicht gut. Ich höre auf, gehst du mit?“ Und dann kündigen halt zwei oder drei oder fünf, weil die emotionale Situation so ist. Untersuchungen zur Generation Z, etwa die Gallup-Studie, belegen, wie wichtig Bindungsarbeit ist. Die fängt im Bewerbungsprozess an und hört nicht mit der Einstellungszusage auf. Onboarding begleitet durch die Einstellungszusage bis zum Dienstantritt, vom Ankommen in der Kaserne bis in die ersten Monate hinein.
Unternehmen erleben, dass viele junge Leute nicht mehr ins Ausland wollen. Spielt das Thema Heimatnähe auch bei Ihnen eine Rolle?
Sieger Wir wissen aus Untersuchungen in der Personalgewinnung, dass von einer Tausender-Stichprobe die Hälfte gerne im Umkreis von 80 Kilometern ihren Dienst versehen würde. Und selbst die ersten sechs Monate möchten viele nicht 200 Kilometer entfernt sein.
Man muss am Wochenende nach Hause können?
Sieger Nicht nur das, vielleicht auch mal unter der Woche. Der eine oder andere mag die Stirn runzeln, aber Heimweh ist ein Thema. Die Freiheiten, die wir über die Dekaden hinweg individuell gewonnen haben, sind mehr und mehr geworden. Ich muss heute bestimmte Dinge einfach nicht tun. Das halte ich für legitim. Die Frage ist, wie wir als Organisation Bundeswehr darauf reagieren können.
Wer nimmt Einfluss auf die individuelle Entscheidung, ob einer oder eine zur Bundeswehr geht?
Sieger Wir sehen, dass die Eltern als Peergroup unglaublich stark sind in der Auseinandersetzung mit beruflichen Werdegängen. Das Behütete, ein ganz altes Wort, vielleicht auch das Gewohnte hat an Bedeutung gewonnen, weil man länger zu Hause ist.
“Wir sprechen nicht nur die jungen Leute an. Wir sprechen ganz gezielt auch die Eltern an, denn vieles wird zu Hause diskutiert.”
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Eltern reden mit
Wie beziehen Sie die Eltern ein?
Sieger Sehr praktisch. Bei der Wehrpflicht war es so, man ist zur Bundeswehr gekommen, in die Kaserne eingezogen. Und dann hat nach sechs Wochen das Gelöbnis oder die Vereidigung stattgefunden, und da war der Elterntag. Heute ist der Elterntag ganz häufig am ersten Wochenende. Dann sehen die Eltern, wie es bei uns zugeht, sie sehen das Umfeld, die Kaserne und haben die Gelegenheit, mit den Ausbildern zu sprechen.
Aber bei Bewerbungsgesprächen sind Eltern nicht dabei.
Sieger Sie können und tun es. Nur im Assessment selbst nicht.
Ängste spielen doch bestimmt bei Eltern eine größere Rolle als bei jungen Menschen.
Sieger Das wird leichter, wenn man auf einer berufsbildenden Messe oder in einer Karrierelounge dabei ist oder ein Elternwochenende mitmacht. Unser werbliches Angebot richtet sich nicht erst an Menschen ab 20. Einstellungen, Vorlieben, Perspektiven und vieles andere mehr bilden sich ab dem Alter von 14 bis 16, teilweise noch früher. Deshalb schauen wir auf die ab 2010 geborene Gen A und die Youtube-Generation, Gen Z. Wir wollen niemanden mit 14 Jahren an der Waffe haben. Aber wir müssen im öffentlichen Leben präsent werden.
Während der Coronamonate hat man in den Impfzentren viele Soldaten gesehen.
Sieger Wir sind nicht nur in Krisenzeiten präsent. Aber wir werden dann deutlicher wahrgenommen, auch bei Naturkatastrophen wie im Ahrtal. Ganz allgemein gilt: Begegnungen sind wichtig. Und deshalb haben wir Truppenbesuchszentren in den Streitkräften eröffnet. Da kann man mal eine Woche hinkommen und sehen, wie militärisches Leben ist. Es gibt selbstverständlich keine Ausbildung an der Waffe. Aber man sieht Panzer, darf sie anfassen und fährt mit.
Gibt es auch Praktikumsplätze bei der Bundeswehr?
Sieger Praktika sind und müssen für uns selbstverständlich sein. Jemand möchte Flugzeugmechaniker werden. In einer Einheit kann er einfach mal mitmachen. Das ist alles sehr niedrigschwellig und unverbindlich. Mit dem Programm „Gemeinsam wachsen“ können wir dagegen einen gewissen Verbindlichkeitsgrad herstellen. Der Chef einer Einheit bietet Interessenten an, in seinen Verband zu kommen. Der probiert sich aus. Wenn beide Seiten sich spannend finden, lässt der Chef den Kandidaten ins Karrierecenter einladen. Ist das gesamte Assessment gelungen, sagt der Vorgesetzte: Den oder die will ich. Dieser Satz zählt. Wir wollen intern und extern eine Werbeaktion zu „Gemeinsam wachsen“ gestalten.
Das klingt nicht nur nach Rekrutierung, sondern schon nach Personalentwicklung.
Sieger Auch für Laufbahnaufstiege haben wir mehr Verantwortung in die Fläche verlagert. Dort, wo man Menschenleben und Millionen an Material verantwortet, darf man jetzt auch sagen: Dich möchte ich gerne für diese Laufbahn haben. Das Wort des Bataillonskommandeurs vor Ort sticht sogar unser eigenes im Personalmanagement. Das ist ein Entwicklungsprozess, vor allem für eine sehr hierarchisch und sehr zentral gesteuerte Organisation wie die Bundeswehr.
“Wenn Sie wachsen wollen und müssen, kommt es auf Regionalisierung, Dezentralisierung und Verantwortung vor Ort an.”
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Mitten im Kulturwandel
Aber die Menschen in der Bundeswehr kennen andere Binnenstrukturen. Und Hierarchien alter Prägung geben Gewissheit und Sicherheit. Wie kommt der Paradigmenwechsel an?
Sieger Wir sind mitten im Kulturwandel. Deshalb greifen nicht alle Maßnahmen schon nächsten Montag. Verantwortung muss man wollen und, wenn man sie hat, auch leben. Andere müssen Verantwortung abgeben. Bisher haben wir im Bundesamt entschieden, wen wir einstellen und wer einen Laufbahnaufstieg machen kann. Wenn wir diese Verantwortung jetzt ein Stück weit denen geben, die den Bedarf haben, dann müssen wir uns als Bundesamt daran gewöhnen. Und vor Ort muss man sich daran gewöhnen, dass man diese Verantwortung jetzt hat.
Wie bereiten Sie Ihre Führungskräfte auf das Mehr an Verantwortung vor?
Sieger Bereits im Alter von knapp über 20 startet für unsere Führungskräfte ein sehr klar strukturiertes Führungskräftetraining. In unseren Organisationseinheiten unterscheiden wir Größenordnungen von 10, 30, 100 oder 1000 und mehr. Für jede dieser Ebenen gibt es Schulungen, sowohl fachliche als auch mit dem Blick auf Führung. Zusätzlich begleiten wir den Kulturwandel. Am Zentrum Innere Führung in Koblenz treffen sich die Führungskräfte und tauschen sich aus. Dort ist auch das Spitzenpersonalcoaching der Bundeswehr für hohe und höchste Führungskräfte angesiedelt – ob in Uniform oder in Zivil.
Rekrutieren Sie Quereinsteiger, etwa erfahrene Fachkräfte unterschiedlicher Schwerpunkte oder die überall begehrten IT-Spezialisten?
Sieger Der Einstieg in die Bundeswehr mit 18, 20 oder nach dem wissenschaftlichen Abschluss, das ist nur ein Weg von vielen. Daneben haben wir Quer‑, Seiten- und auch Wiedereinsteiger. Mit 1000 Berufsbildern sind wir breitbandig unterwegs. Und Fachkräfte brauchen wir im Bereich der IT ebenso wie bei Ärzten und Ärztinnen. Wir benötigen, wenn Sie an Bundeswehrkrankenhäuser denken, auch Pflegepersonal – und MINT- und Handwerksberufe gibt es auch noch.
“Die Frage ist, über welchen Weg finden wir wen?”
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Im Militärischen kann man mit Berufs- oder akademischem Abschluss nach einem Fitnesstest direkt einsteigen, auch mit höherem Dienstgrad. Im zivilen Bereich der Bundeswehr können Sie direkt als Beamter oder Beamtin eingestellt werden. Die Sicherheitsüberprüfungen sind allerdings aufwendiger geworden. Und im uniformierten Bereich gibt es eine Einschränkung: Sie müssen die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.
Wie verhalten sich die aufgeführten Bedingungen zur Höhe des Einkommens?
Sieger Ich will es mal provokant so formulieren: Einen Gender-Pay-Gap finden Sie bei uns nicht. Berufsanfangende, die von der Schule kommen, verdienen zwischen 1600 und 2300 Euro netto. Und die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist ein starkes Argument. Wir müssen keinen Vergleich scheuen. Wir kennen Zulagen, Prämien und Gewinnungsprämien in Bereichen, in denen wir Fachkräfte dringend brauchen. Wenn Sie im uniformierten Bereich die Zusatzleistungen einrechnen wie die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung, zahlen die auf das Einkommen ein. Hinzu kommt ein Netz aus Versorgungsmöglichkeiten, wenn Sie an Einsatzschädigung oder Dienstunfall denken. Da sind wir natürlich völlig anders aufgestellt als ein normaler Betrieb. Das ist gesetzlich geregelt. Denn die Menschen gehen im staatlichen Auftrag in Uniform oder in Zivil einer Tätigkeit nach, die Leib und Leben gefährden kann.
Kameradschaft als Alleinstellungsmerkmal
Was können Sie den jüngeren Generationen neben Gehalt und Sicherheit in der so wichtig gewordenen Sinnfrage anbieten?
Sieger Purpose, also Sinnstiftung, spielt eine entscheidende Rolle. Ich sage immer: Wir als Bundeswehr sind Teil der Lebensversicherung der Bundesrepublik Deutschland. Wie viel mehr Sinn wollen wir haben? Und: Kameradschaft ist ein Alleinstellungsmerkmal der Bundeswehr.
Das ist ein Begriff, den ich höchstens noch aus dem Sport kenne.
Sieger Genau. Sportkameradinnen, Sportkameraden, Kameradschaft. Kollegialität gibt es oft. Kameradschaft hat eine ganz andere Qualität. Kameradschaft heißt auch, sich im Einsatz, am scharfen Ende, aufeinander zu verlassen. Aber auch die zivilen Angehörigen der Bundeswehr kennen Kameradschaft. Man hilft sich ungefragt, man steht füreinander ein. Und wir schauen genau auf negative Ereignisse, führen Statistik über extremistische Verhaltensweisen und andere negative Implikationen.
Welche Karrierewünsche kann ein, sagen wir mal, Zeitsoldat im Heer mit 30 Jahren äußern?
Sieger Es stellt sich die Frage, ob einer oder eine noch viele Jahre in Uniform bei uns bleiben oder in den Status eines zivilen Angehörigen oder einer zivilen Angehörigen der Bundeswehr wechseln will. Ausgehend von dieser Grundentscheidung können wir im Binnenarbeitsmarkt Qualifikation und Bedarf zusammenbringen. Ich zum Beispiel bin eher systemisch angelegt, andere kümmern sich lieber um die Instandsetzung von Hubschraubern. Wir gehen einen Entscheidungsbaum entlang.
Vorgesetzte halten gute Leute gerne bei sich, statt sie wegzuentwickeln. Zerstört es die Vertrauenskultur, wenn jemand am Vorgesetzten vorbei mit dem Personalamt redet?
Sieger Ihr Vorgesetzter ist ein Ratgeber, er kennt Sie am besten. Dann gibt es das Personalmanagement vor Ort und hier im Amt die Personalführung.
“Jeder und jede darf direkt und unmittelbar den Personalführer oder die Personalführerin anrufen. Das ist ein individuelles Recht, das angenommen wird.”
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Aus Organisationsinteresse ist es nicht unproblematisch, wenn sich 180 000 Menschen an 1500 Personalführende wenden. Aber es beweist Vertrauen, wenn Menschen sich bei uns melden, die sich mit ihrer Zukunft beschäftigen wollen.
Wahrscheinlich auch mit der Frage nach dem Arbeits- und Einsatzort. Bleibt er zwangsläufig die Kaserne, oder gibt es eine Chance auf Homeoffice?
Sieger In meinem Verantwortungsbereich haben wir alle Formen von Teilzeit und mobilem Arbeiten. Ich kann IT-Systeme, wo immer ich einen Zugang habe, nutzen. Remote geht einher mit Führen auf Distanz. Das verlangt von Führungskräften, aber auch von Beschäftigten andere Fähigkeiten. Wenn ich aber eine Einheit in den Streitkräften sehe, die gerade mit Panzern übt, da kann ich nicht remote arbeiten. Die Masse der Bundeswehr, das sind nicht Ämter, sondern Einheiten und Verbände in der Fläche. Bei unmittelbarer Führung, wenn man verteidigt, angreift oder den Panzer bedient, ist Präsenzkultur wichtig. Und mit Blick auf zivile Unternehmen sehe ich derzeit auch wieder eine Gegenbewegung hin zu mehr Präsenzkultur.
Diversity kommt
Ein weiteres Kulturthema, das sich aus den gesellschaftlichen Entwicklungen ergibt, ist Diversität. Beschäftigt sich das Personalmanagement mit den diversen Dimensionen?
Sieger Unsere Führungs- und Organisationskultur, die Innere Führung, hat Konstanten, etwa dass wir fest auf dem Boden unseres Grundgesetzes stehen. Sie ist aber auch variabel angelegt und kann sich an gesellschaftlichen Entwicklungen ausrichten. Unsere Teilnahme am CSD, aber auch in Wacken sind dafür Beispiele.
“Der Blick in die Geschichte zeigt: Streitkräfte waren zu jeder Zeit divers.”
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Womit wir uns schwertun, ist der moralisierende Zeigefinger. Wenn wir über Diversity-Management in der Bundeswehr, aber auch in der Gesellschaft sprechen, dann würde ich mir wünschen, wir würden alle sieben Dimensionen gleichmäßig stark beleuchten, denn erst das bringt den Mehrwert.
Schauen wir auf Menschen mit Beeinträchtigung. Haben diese Menschen eine Karrierechance in der Bundeswehr?
Sieger Im zivilen Bereich, aber auch im Militärischen gibt es Berufsmöglichkeiten. Wir gehen so weit, dass wir für einen Arbeitsplatz einen Bewerber mit einer körperlichen Beeinträchtigung bei gleicher Eignung bevorzugen. Und grundsätzlich gilt: Jeder, der bei uns ist und im Dienst eine Schädigung davonträgt, wird nicht einfach vor die Tür gesetzt. Rehabilitation oder besonders ausgestattete Arbeitsplätze werden angeboten. Es ist Teil der Fürsorge, die wir gegenüber unseren Angehörigen haben. Eine Abteilung hier im Haus ist für diese Belange in der Bundeswehr zuständig.
Nach den Auslandseinsätzen ging es häufiger um psychische Belastungen.
Sieger Wenn der Soldat oder die Soldatin eine Beeinträchtigung hat, etwa eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), zurückzuführen auf Ereignisse im Dienst, dann versuchen wir, die Rehabilitation therapeutisch und sozialdienstlich zu begleiten. Im Rahmen des Einsatz-Weiterverwendungsgesetzes gibt es ein Anrecht auf Weiterbeschäftigung von Soldatinnen und Soldaten, die während eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr schwer an Körper, Seele oder Geist verwundet wurden. Unter bestimmten Voraussetzungen können Zeitsoldaten dann zu Berufssoldaten werden, die für immer bleiben. Das ist Teil unserer Verantwortung.
Die Vielfalt Ihrer Aufgaben wird auch durch die große Zahl der Bundeswehrangehörigen bestimmt. Wie halten Sie den Kulturwandel in Schwung?
Sieger In der Personalführung reden wir von 260 000 Menschen. In der Personalgewinnung sind es jährlich circa 25 000 Neueinstellungen. Aber wir sind auch für alle Personalservices zuständig.
“Als Ganzes sind wir als Bundesamt für das Personalmanagement der Motor der Zeitenwende – nicht nur auf dem Plakat.”
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Überall, wo Sie Veränderungen gestalten, wo Sie was Neues aufbauen, etwas verändern, überall brauchen Sie Menschen mit Veränderungsbereitschaft. Sie brauchen auch eine Frustrationstoleranz. Sie müssen grundsätzlich optimistisch und positiv aufgestellt sein. Denn es geht schließlich um die Wiederherstellung der vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr.
Sie sind offensichtlich überzeugt, aber wie überzeugen Sie Zweifler?
Sieger Der Hebel heißt Direktkommunikation. Ich muss erklären, dass wir den Aufwuchs, die Reorganisation und die Brigade in Litauen machen wollen. Jeder und jede der 4500 Menschen in meinem Verantwortungsbereich muss das hören, wissen und verstehen. Dazu muss ich direkt erlebbar sein. Ich kann mich nicht drauf verlassen, dass das, weil ich es hier sage, dort auch ankommt. Wahrnehmung funktioniert anders in der Kommunikation. Externe Kommunikation ist auch wichtig, aber für das Change-Management ist die interne Kommunikation Dreh- und Angelpunkt.
Herr Sieger, vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Ruth Lemmer.
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